Mythen der Notwehr – Mythos 1 Erst wenn der andere zuschlägt, darf ich auch zurückschlagen
Wenn man sich mit Selbstverteidigung befasst, taucht früher oder später die Frage auf, ab wann darf man sich eigentlich physisch wehren?
Die Frage sollte man geklärt haben, bevor man in eine entsprechende Situation gerät, damit man den Kopf in der Situation eben frei hat und nicht allein deshalb den Kürzeren zieht, weil der andere sich nicht so viele Gedanken macht, sondern einfach mal zuschlägt, während man noch mit den rechtlichen Fragen beschäftigt ist.
Manche glauben, dass das Notwehrrecht beginnt, wenn der andere den ersten Schlag geführt hat.
Erfreulicherweise mutet uns der Gesetzgeber da keine Nehmerqualitäten zu, sondern gesteht uns das Verteidigungsrecht schon früher zu.
§ 32 Absatz 2 StGB definiert Notwehr wie folgt:
Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
Eine Notwehrhandlung setzt einen gegenwärtigen Angriff voraus. Ein Schlag kann Bestandteil eines Angriffs sein, markiert aber nicht zwingend den Beginn.
Vielmehr ist ein Angriff gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert.
Es reicht also aus, dass eine Tätlichkeit unmittelbar bevorsteht.
Ein guter Indikator ist die räumliche Distanz, die man üblicherweise hält. Unter Fremden beträgt die neutrale Distanz zwischen 1,20 und 3 Meter. Das sind mindestens zwei Armlängen. Bei guten Freunden beträgt der Mindestabstand immerhin noch mindestens eine Armlänge, also ca. 60 cm.
Dringt jemand aggressiv! in die Distanzzone ein, die guten Freunden vorbehalten ist, so darf man zu Recht von einem bevorstehenden Angriff ausgehen, der bereits zur Notwehr berechtigt.
Das gilt natürlich nicht im dicksten Gedränge in der Kneipe oder Veranstaltungen, bei denen die Abstände nicht eingehalten werden können. Das versteht sich aber von selbst.
Mythen der Notwehr – Mythos 2 Wenn es Notwehr ist, darf ich alles – schließlich hat der andere angefangen
Zunächst einmal spricht § 32 Abs. 1 StGB von einer Tat, die durch Notwehr geboten ist. Die Rede ist von einer Straftat wie z.B. einer Körperverletzung, die durch Notwehr geboten ist. Nach Abs. 2 muss diese Tat auch noch erforderlich sein, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwehren.
Das klingt einigermaßen kompliziert und ist es auch. Immerhin erlaubt das Gesetz hier, Gewalt gegen einen anderen mit allen damit verbundenen Gefahren einzusetzen, ohne dafür bestraft zu werden. Man muss sich an dieser Stelle einfach mal bewusst machen, dass physische Gewalt gegen Menschen sehr leicht deren Tod verursachen können, auch wenn dies gar nicht beabsichtigt ist.
Selbst ein Schubser kann tödlich enden, wenn der andere dadurch stolpert und unglücklich stürzt. Es dürfte klar sein, dass durch die Notwehr keine Freibriefe zur Gewaltanwendung erteilt werden.
Um einem Angriff zu begegnen, ist von den möglichen effektiven Mitteln das jeweils mildeste Mittel zu wählen, um einen Angriff endgültig zu beenden.
Beispiel: In einem Gerangel gehen Angreifer und Verteidiger zu Boden und der Verteidiger sitzt auf einmal auf dem Angreifer, der sich nun nicht mehr bewegen kann. Um ihm eine Lektion zu erteilen, schlägt der Verteidiger dem Angreifer ins Gesicht. Der Faustschlag ist nicht durch Notwehr gedeckt, da er zur Abwehr des Angriffs nicht (mehr) erforderlich ist.
In einer normalen Notwehrsituation ist es trotz des Gebotes des mildesten Mittels nicht erforderlich, auszuweichen. Es gilt der Grundsatz, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen hat.
Besondere Vorsicht ist bei Notwehr gegenüber Kindern (unter 14 Jahre), ersichtlich Irrenden oder in sonstiger Weise schuldlos Handelnden geboten. Da gilt der Grundsatz nämlich nicht so ohne Weiteres.
Hier ist das Notwehrrecht insoweit eingeschränkt, als zunächst versucht werden muss, dem Angriff auszuweichen. Gelingt dies nicht, ist die Schutzwehr zulässig. Schutzwehr sind Bewegungen, die dazu dienen, den eigenen Körper zu schützen, nicht aber den Angreifer anzugreifen.
Erst wenn der Angriff auch nicht durch die Schutzwehr abgewehrt werden kann, ist der (Gegen-) Angriff zulässig.
Beispiel: Ein völlig Betrunkener schlägt verwirrt um sich und nach dem Verteidiger. Erst wenn ein Ausweichen nicht mehr möglich ist und der Verteidiger sich auch nicht durch bloße Abwehrbewegungen oder Deckung schützen kann, darf er den Angriff mit einem gezielten Faustschlag beenden.
An dieser Stelle noch ein Hinweis zu oft gesehenen Trainingsabläufen:
Ein Messerangriff wird abgewehrt, der Angreifer mit einem Arm- oder Handhebel entwaffnet und der Abschluss wird mit dem erbeuteten Messer durch Schnitte oder Stiche gegen den Angreifer zelebriert. DAS ist ganz klar ein strafbarer Notwehrexzess!
In die gleiche Kategorie fallen Stampftritte auf oder gegen den Kopf des am Boden liegenden Angreifers.
Mythen der Notwehr – Mythos 3 Kampfsportler dürfen ihre Techniken nicht zur Notwehr einsetzen.
Doch – dürfen Sie! …sofern der Einsatz der jeweiligen Technik erforderlich ist und das mildeste Mittel zur Abwehr des Angriffs darstellt. Je nach Ausbildungsstand des Kampfsportlers stehen gegebenenfalls Techniken zur Verfügung, mit denen ein Angriff abgewehrt werden kann, die milder aber genauso effektiv sind, wie z.B. ein Faustschlag gegen den Kopf. Das führt dazu, dass ein Laie, der sich nicht anders zu helfen weiß, einen Faustschlag aus Notwehr führen darf, der Kampfsportler mit dem gleichen Schlag jedoch die Grenzen der Notwehr aber überschreitet.
Ich hoffe, ich konnte ein wenig über die Notwehr aufklären. Eigentlich ist es ganz einfach. Wenn ich mich wehren MUSS, ist es Notwehr. Wenn ich mich freue, dass ich mich wehren DARF und paar coole Techniken ausprobieren kann, ist es in der Regel keine Notwehr mehr und somit strafbar.
Autor: Jan Kaminski
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